Moderne Häuslichkeit. Anleitungen zum „richtigen“ Wohnen in den 1950ern

Vortrag von Johanna Hartmann mit anschließender Diskussion

Wiederaufbau nach dem Krieg sollte in der jungen BRD keineswegs nur bedeuten, alle Menschen mit ausreichend Wohnraum zu versorgen. Vielmehr spricht aus den Aufbaudiskursen die Forderung, den neuen Stadt- und Wohnraum derart zu gestalten, dass in seinen räumlichen Ordnungen und vermittelt über die Formgestaltung seiner Einrichtungsdinge auch die wohnende Gesellschaft zu neuer Form und Ordnung finden könne. Anleitungen zum ‚richtigen‘ Wohnen wurden zentraler Bestandteil des städtischen Wiederaufbaus und erfuhren in Form zahlreicher Ausstellungen, Beratungsstellen, Zeitschriften, Ratgeber und Unterrichtsmaterialien in den 1950er Jahren einen historischen Höhepunkt. Dabei erweist sich das ‚richtige‘ Wohnen, das insbesondere über den Topos des zugleich modernen wie behütenden ‚Heims‘ als Ort individueller, familialer und nationaler Erneuerung figuriert wird, nicht nur als Präsentationsfläche bestimmter Raumformen und Einrichtungsgegenstände, sondern verweist auf übergeordnete Zusammenhänge: auf das Wohnen als Konstruktionsraum von Subjektivität und Gesellschaft. Die Wohnlehre gibt also nicht nur Auskunft zu Fragen der Möblierung, sondern leitet das wohnende und wohnen-lernende Subjekt darin an, sich in der Gesellschaft einzurichten – in den Nachkriegs-Diskursen städtebaulicher und gesellschaftlicher Neuordnung expliziter und medial ausführlicher als je zuvor.

Johanna Hartmann hat Gender Studies in Berlin und Sussex studiert und in Bremen mit einer Arbeit über Lehrstücke des Wohnens in der frühen Bundesrepublik  promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Konzepte von Raum, Subjektivität, Körper und Geschlecht in Diskursen des Wohnens und der Stadt mit einem besonderen Fokus auf der westdeutschen Nachkriegsmoderne. Ein wichtiger Kontext ihrer Forschung war das Forschungsfeld wohnen+/−ausstellen, eine Kooperation zwischen dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen und dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gleichstellungsstelle der Hochschule Bremen und befasst sich dort mit Antidiskriminierung und Genderkompetenz als Themen einer Wissenschaftsinstitution. Gemeinsam mit Katharina Eck, Kathrin Heinz und Christiane Keim hat sie Wohn/Raum/Denken. Politiken des Häuslichen in Kunst, Architektur und visueller Kultur herausgegeben (transcript 2021). Weitere Publikation u. a.: Schooling the Eye in Modern Home Comforts. Spatial Concepts in the „neues wohnen“ („new dwelling“) Exhibition of 1949, in: Gaia Caramellino, Stephanie Dadour (Hg.): The Housing Project. Discourses, Ideals, Models and Politics in 20th century Exhibitions, Leuven: Leuven University Press 2020, S. 134–157; Modern traditions: the modernist apartment and the detached single-family house in early postwar conceptions of the ideal home in West Germany, in: Christiane Cantauw, Anne Caplan, Elisabeth Timm (Hg.): Housing the Family. Locating the Single-Family Home in Germany, Berlin: jovis Verlag 2019, S. 200-217.